Oktober 16, 2013

Es war einmal....

....ein Ast. Der Ast lebt in Gemeinschaft mit einem sehr alten, knorrigen Baum. Da der Ast noch nie etwas anderes gesehen hatte und noch wie an einem anderen Ort lebte als bei dem alten Baum, fühlte er sich als großes Ganzes und dachte nie daran etwas einzigartiges zu sein. Ihm fehlte es an nichts, er hatte immer Gesellschaft, die Tiere ruhten sich gerne auf seinem Rücken aus, er hatte immer genug Nahrung wie Sonnenschein und Wasser – es gefiel ihm richtig gut und es hätte immer so weitergehen können.

Eines Tages sagte der alte, knorrige Baum: „Ast, meine Zeit ist gekommen. Ich werde immer älter und schwächer und kann nicht mehr alle Äste weiterhin in meinem Lebensraum mit mir tragen. Du bist nun schon groß und schwer und deswegen musst Du leider gehen. Ich wünsche Dir alles Gute auf Deinem Weg.“
Der Ast begriff nicht, was der Baum ihm damit sagen wollte. Doch noch bevor er sich die Worte durch den Kopf gehen ließ, merkte er, wie sich etwas in ihm löste und er sich mit einem schweren Schlag auf dem Boden im Gras wiederfand.
Als er sich von dem ersten Aufprall erholt hatte, wuchs plötzlich in ihm die Idee, selbst ein Baum werden zu können. Er malte sich die tollsten Geschichten aus, wie die Menschen unter ihm picknikten, sich mit ihm fotografierten, die Tiere sich an seinen Blättern und Knospen labten und ihn anschließend als Schlafplatz wählten – ach, es wäre einfach wunderbar.

Bald musste er jedoch feststellen, dass die Tage vergingen, die Wochen, die Monate und aus ihm immer noch kein Baum geworden war. Niemand beachtete ihn, im Gegenteil: manche Menschen traten auf ihn und brachen die kleinen Zweige an ihm ab. Er fühlte sich unendlich enttäuscht und einsam. Je mehr Tage vergingen, umso mehr verlor er die Hoffnung auf das eigene Leben, das er sich so sehnlichst gewünscht hatte.

Eines sonnigen Tages kam ein älterer Herr des Weges. Gemächlich, in Gedanken versunken, sich die Landschaft betrachtend. Sein Blick fiel auf diesen seltsamen Ast, der am Boden lag. Als ob etwas seinen Blick lenken würde – er konnte einfach nicht weitergehen. Der Ast hatte etwas wie eine Ausstrahlung und ein ganz besonderes Äußeres. Die geriffelte Rinde und der leichte Moosansatz darauf ließen den älteren Herren nicht mehr los und eine Idee wuchs in dessen Kopf. Noch ehe der Mann es selbst begriff, hatte er den Ast schon vom Boden aufgehoben und lief in nun doch etwas zügigerem Schritt nach Hause. Dort angekommen lief er schnurstracks in seine Werkstatt. Dort verbrachte er die nächsten Stunden mit dem Ast und als er wieder herauskam hatte er etwas geschaffen. Doch er hatte keine Ahnung, was er da geschaffen hatte. Für ihn waren es nette Stücke mit besonderem Charme. „Dekoartikel“ wie man heutzutage sagt. Etwas, was man verschenkt, vielleicht sogar verkaufen könnte.
Für den Ast allerdings hatte er ein neues Leben geschaffen. Etwas, was dieser nie zu träumen gewagt hätte. Er hatte eine neue Form und eine neue Bestimmung bekommen. Er bekam jetzt die Aufmerksamkeit, die er sich schon so lange gewünscht hatte.
Und noch etwas hatte dieser Künstler vollbracht. Nämlich die unbändige Freude der Beschenkten, der manchmal alles über den Kopf wächst und für die dank dieser kleinen Schätze der Tag zu etwas ganz Besonderem wurde.


Vielen Dank liebe A. Und Deinem Papa!

herzallgäuerliebste Grüße
Carmen